A
ls Trix die legendäre, wenn auch etwas heruntergekommene Schenke Schuppe und Kralle betrat, stellte er erstaunt fest, dass sich dort kaum etwas verändert hatte. Nach wie vor klirrten Rüstungen in allen Tonlagen.
Als er genauer hinsah, fiel ihm zudem ein bemerkenswertes Detail auf: Die meisten Ritter trugen zwar Kettenhemden oder Harnisch, hatten aber die Kettenhosen oder Beinschienen abgenommen und unter die Bänke geschoben. Eine weise Voraussicht angesichts der Mengen von Bier, die sie tranken und die sie zu regelmäßigen Besuchen auf dem Hinterhof zwangen. Die dreckverkrusteten wollenen Beinkleider oder – bei einfacheren Rittern – die zerrissenen Unterhosen verliehen der Atmosphäre jedoch weder Noblesse noch Wohlgeruch.
Im Zentrum der allgemeinen Heiterkeit stand wie beim letzten Mal der herrliche Sir Glamor. Der rot gelockte Ritter hatte einen runden Tisch erklommen, hielt einen Bierkrug hoch und sang aus vollem Hals:
»Bier her, Bier her, mir ist’s nicht
genug!
Bier her, Bier her, mir ist’s nicht genug!
Bier im vollen Krug!
Davon krieg ich nie genug!«
Seine Tischgenossen, nicht ganz so ruhmreiche Ritter,
hatten sich bei den Schultern gefasst und schunkelten und trampelten um den Tisch herum. Sobald das Wort »Bier« fiel, stampften die Ritter drohend mit den Fuß auf und riefen: »Einen ganzen Krug!«
Leicht bestürzt über diese Ausgelassenheit zwängte sich Trix auf der Suche nach seinem kurzzeitigen Herrn, dem ruhmreichen Ritter Paclus, durch die Tische hindurch. Letztes Mal war sein Auftauchen in der Schenke völlig unbemerkt geblieben, drückten sich doch um die Ritter stets mehr als genug Jungen herum, die von den funkelnden Waffen angezogen wurden und davon träumten, bei einem Ritter in Dienst zu treten – oder schlicht und ergreifend einen von ihnen bestehlen wollten. Diesmal jedoch trug Trix den Umhang eines Zauberers, einen Stab (unterm Arm, damit er ihn niemandem auf den Fuß rammte) und einen Samtbeutel am Gürtel, in dem sein Buch mit Zaubersprüchen lag. Damit fiel er auf. Einige Gäste hatten einen Blick voller Ironie für ihn übrig, andere, meist ältere Ritter, die bereits Magier im Kampf erlebt hatten, einen voller Respekt. Ein Ritter schlug ihm kameradschaftlich auf den Rücken, ein anderer hielt ihm mit zitternder Hand einen noch nicht geleerten Bierkrug hin, was unter Rittern als heiliges Zeichen der Freundschaft und Achtung gilt. Als Trix allerdings vorbeigegangen war, hielt dieser, mit noch glückseligerem Lächeln auf den Lippen, den Krug einem Hund hin, der unterm Tisch an einem Knochen nagte.
Schließlich entdeckte Trix die knapp über dem Tisch aufragende Glatze von Sir Paclus. Der üppige Bart des Ritters lag wie eine Serviette auf dem Tisch. Von beiden Seiten umarmten ihn lustig plappernde Kellnerinnen. Die eine wickelte seinen Bart um den kleinen Finger, sodass sich die Haarpracht ringelte, die andere flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Paclus strahlte, seine Augen funkelten. Er schien sich zwischen den beiden einfach nicht entscheiden zu können.
»Sir Paclus?« Trix blieb vor dem Ritter stehen.Dessen Blick wurde warm. »Trix!«, schrie er, wobei er sogar Glamors Gesang übertönte. »Du kleiner Taugenichts, nun bist du schon fast ein richtiger Zauberer!« Paclus schob eine der Kellnerinnen zur Seite und deutete auf den Platz neben sich. Trix setzte sich, wenn auch etwas verlegen.
»Gefällt sie dir?«, erkundigte sich Paclus und blickte auf die Kellnerin, die weggerutscht war. »Sie heißt … na, das ist unwichtig. Soll ich sie dir vorstellen?«
Die Kellnerin hatte zunächst einen Schmollmund gemacht, betrachtete Trix jetzt aber neugierig. Den schauderte es. Eine Greisin von dreißig Jahren kennenzulernen lag nun wahrlich nicht in seinen Absichten.
»Sir Paclus … wir müssen miteinander reden!«
»Husch, husch, weg mit euch!«, befahl Paclus den Kellnerinnen. »Der
junge Zauberer und ich, wir müssen ein ernstes Gespräch
führen!«
»Ein Zauberer! Ja und?!«, höhnte die andere Kellnerin und ließ von
seinem Bart ab. »Mein kleiner Bruder ist auch Zauberlehrling …
schon im zehnten Jahr.«
Trotzdem zogen die beiden kichernd ab.
»Was gibt es, mein Sohn?«, fragte Paclus mit recht nüchterner
Stimme. »Wenn du von der Magie enttäuscht bist, musst du mich nicht
lange bitten: Ich bin jederzeit bereit, dich zurückzunehmen. Meine
alten Knappen wollten aus irgendeinem Grund nicht zu mir zurück.
Und neue … wollen einfach nicht auftauchen.«
»Nein, vielen Dank«, antwortete Trix. »Ich habe mich bereits an die
Zauberei gewöhnt.«
»Schade!«, sagte Paclus noch nüchterner. »Trotzdem bin ich ganz
Ohr!«
Mit einem Blick versicherte sich Trix, dass niemand ihr Gespräch
hörte. Sir Glamor brüllte nach wie vor:
»Bier her, Bier her, mir ist’s nicht genug!
Bier her, Bier her, mir ist’s nicht genug!
Bier im vollen Krug!
Davon krieg ich nie genug!«
Seine Saufkumpane hämmerten mit den Schwertern auf den Fußboden und
schrien: »Einen ganzen Kübel!«
Der Schankwirt war bereits mit vier Kannen zu dem Tisch
unterwegs.
»Herr Ritter«, begann Trix, »ich habe da eine Geschichte gehört
…«
»Gib mir die Kurzfassung«, bat Paclus.
»Die Vitamanten haben mit Erlaubnis des Regenten und des Königs
höchstselbst die Fürstin Tiana auf die Kristallenen Inseln
entführt, damit sie die Frau von Evykait wird!«
Paclus tastete auf dem Tisch herum, fand unter diversen leeren
Krügen einen noch vollen, stürzte ihn hinunter, rülpste und stand
auf. »Komm, mein Junge, schnuppern wir ein bisschen frische
Luft!«
Trix und Paclus befanden sich auf der
gepflasterten Uferpromenade und betrachteten die Schiffe.
»Die nützen uns nichts«, brummte Paclus. »Das sind Lastkähne, die
sind langsam, mit denen verschiffst du nur Möhren … Das da ist
schnell und schön, aber teuer. Das können wir uns nicht leisten.
Die weiter hinten kommen aus Samarschan, mit denen will ich mich
lieber nicht einlassen … die verraten dich, sobald du ihnen den
Rücken zukehrst.«
»Und das da?« Trix zeigte auf ein elegantes Schiff, an dessen Deck
die Hebel von Katapulten aufragten.
»Das ist eine königliche Kriegsfregatte, die Friedensmacher«, schnaubte Paclus. »Willst du etwa
ein königliches Schiff mieten, um dem Befehl des Königs
zuwiderzuhandeln?«
»Fürchtet Ihr Euch eigentlich nicht, Euch dem König zu
widersetzen?«, fragte Trix verlegen.
»Ich? Nein, mein Freund. Ich habe nicht dem König, sondern dem
toten Fürsten einen Eid geleistet. Wenn seine Tochter jetzt in der
Patsche sitzt, treib ich ein Schiff auf und rette sie!« Paclus
grunzte und sagte mit fester Stimme: »Uns bleibt nur eins! Wir
müssen in die Hafenbar!«
»Um dort nach einem Kapitän zu suchen, der Arbeit braucht?«,
vermutete Trix.
»Also erst mal, weil ich noch ein Bier trinken will, um mir das
Hirn durchzuspülen«, antwortete Paclus. »Allerdings ist das ein
guter Vorschlag, mein Junge! Wo sollten wir denn sonst arbeitslose
Seeleute finden, wenn nicht in der Hafenbar?«
Wenn die ritterliche Schenke Schuppe und
Kralle ein lauter Ort war, an dem Metall rasselte, Bierkrüge
klirrten und gegrölt wurde, dann war die Hafenbar Anker und Bugspriet das genaue Gegenteil. An kleinen
Tischen saßen – zumeist allein – trübselige Männer in Matrosenkluft
(gelbe Overalls aus steifem Stoff, mit Innentaschen und Schnüren am
Kragen). Sie tranken kein Bier und auch keinen Wein, sondern
steifen Rum aus kleinen Gläsern. Da fast alle Pfeife rauchten,
hingen Wolken dicken bläulichen Rauchs in der Luft.
Nachdem sich Sir Paclus die Seeleute genau angesehen hatte,
steuerte er auf den Tresen zu. Hinter ihm stand offenbar der
Schankwirt höchstselbst, ein baumlanger, älterer Seemann mit
gutmütigem Gesicht. Auf einer Stange hinter ihm saß ein
ausgestopfter Papagei, der völlig verstaubt und verrußt
war.
»Bier!«, forderte Paclus. »Bier für mich und meinen jungen
Freund!«
»Bier, Bier …«, murmelte der Seemann versonnen. »Ich habe gehört,
dass Landratten etwas trinken, das so heißt … Ein Rum tut’s
nicht?«
»Bier!«, wiederholte Paclus.
»Kommt sofort, Herr Ritter. Irgendwo hatte ich da noch ein Fässchen
…«
Der Wirt drehte sich humpelnd um. Voller Mitleid sah Trix, dass dem
Mann ein Bein fehlte. An seiner Stelle saß da ein glatt gehobelter
Holzstumpf.
»Das hab ich im Kampf für meinen geliebten König Marcel verloren!«,
sagte der Schankwirt, als habe er Trix’ Blick gespürt. »Ruhm dem
König!«
»Ruhm …«, knurrte Paclus.
Der Schankwirt kehrte mit einem kleinen Fässchen zurück, aus dem er
zwei große Krüge abfüllte. Trix nahm genüsslich einen Schluck. Das
Bier war leicht süß und schmeckte. Paclus trank ebenfalls, grunzte
zufrieden und warf ein paar Kupferlinge auf den Tresen.
»Kann ich den edlen Herren vielleicht sonst noch helfen?«, fragte
der Wirt. »Ein tapferer Ritter und ein junger Zauberer … Sucht Ihr
womöglich eine Mannschaft, um auf Abenteuersuche zu gehen?
Vielleicht gar auf Schatzsuche?«
»Hä?«, brummte Paclus.
»Ich habe das ruhige Landleben seit Langem satt«, vertraute der
Schankwirt ihnen an. »Ich will zur See! Zu fernen unbewohnten
Inseln! Ich verstehe etwas von Seefahrt! Im Kampf bin ich äußerst
wertvoll! Außerdem koche ich nicht schlecht! Ja, Ihr könntet mich
als Koch anheuern …«
»Wir suchen keinen Schatz«, sagte Paclus, nachdem er den Krug
geleert und sich den Bart abgewischt hatte. »Uns ruft eine
Ehrenpflicht, die uns erhebliche Probleme bereitet und Entbehrungen
abverlangt, aber keinen materiellen Vorteil bringt.«
»Schade«, bedauerte der Schankwirt. »Trotzdem dürft Ihr mich um Rat
fragen.«
»Woher diese Güte?«, bohrte Paclus ungläubig nach.
»Euer junger Freund«, sagte der Wirt, der sich nun leicht zu Paclus
vorgebeugt hatte, »erinnert mich an einen tapferen Jüngling, mit
dem ich auf einer einsamen Insel weit weg von hier die
erstaunlichsten Abenteuer erlebt habe. In dieser Geschichte gab es
alles: Edelmut und Verrat, Großherzigkeit und Niedertracht, eine
Schatzsuche und einen Kampf gegen Piraten … Eine Sache so recht
nach meinem Herzen! Sie hätte aufgeschrieben gehört, damit sie
anderen eine Lehre ist. Seitdem weiß ich, wie wichtig es ist, der
heranwachsenden Generation zu helfen, ihr moralischen Halt und
ethische Orientierung zu geben. In Erinnerung an meinen kleinen
Freund, dem ich das Seemannshandwerk beigebracht und den ich sogar
vor blutrünstigen Piraten gerettet habe, bin ich bereit, Euch zu
helfen.«
»Das ändert die Sache natürlich«, erwiderte Paclus, der ihm seinen
Krug zum Nachfüllen hinhielt. »Dann könnt Ihr uns vielleicht einen
Rat geben. Wir brauchen ein kleines schnelles Schiff und eine gute
Mannschaft. Für ein paar Tage. Die Reise wird gefährlich und bringt
nichts ein. Die Mannschaft muss unbedingt zuverlässig sein. Niemand
darf je ein Wort darüber verlieren, was er erlebt hat!«
»Schwierige Sache!«, sagte der Schankwirt. »Seeleute, die keine
Geheimnisse ausplaudern? Sind mir nicht bekannt. Man könnte ihnen
natürlich die Zunge abschneiden oder sie einfach über Bord werfen,
wenn das Schiff wieder im Hafen einläuft …« Er verstummte und
lächelte. »Das war ein Scherz, edler Ritter! Nur der Scherz eines
guten alten Schiffskochs! Am einfachsten wäre es, Ihr würdet ein
Schiff ohne Mannschaft nehmen. Im Hafen liegt ein prächtiger
Schoner, dessen Kapitän sich dem Suff hingegeben hat und dem die
Mannschaft längst davongelaufen ist. Das Schiff ist nicht sehr
groß, aber wendig. Gegen ein bescheidenes Entgelt sorge ich dafür,
dass der Kapitän Euch das Schiff für ein oder zwei Wochen
überlässt. Aber um eine Mannschaft müsst Ihr Euch selbst kümmern!
Der Bagage, die sich in meiner Schenke die Hosen durchsitzt, ist
nicht zu trauen!«
Paclus sah Trix an. »Kennst du jemanden, der dafür infrage
käme?«
Trix schüttelte den Kopf – bis ihm eine wahnwitzige Idee kam. »Muss
die Mannschaft groß sein?«
»Fünf, sechs Mann, wenn sich niemand vor der Arbeit drückt«,
antwortete der Wirt.
»Paclus«, sagte Trix, von der eigenen Entschlossenheit mitgerissen,
»es gibt da jemanden … in gewisser Weise ist er ein Kapitän
…«
Paclus warf eine weitere Münze auf den Tresen. »Kümmer dich um das
Schiff, guter Mann«, verlangte er. »Wir kommen am Abend wieder.
Gehen wir, Trix.«
Der Ritter und der Zauberlehrling verließen die Schenke, begleitet
von den sehnsüchtigen Blicken der Seeleute und dem neugierigen
Blick des Wirts.
»Wie heißt dein Kapitän?«, fragte Paclus.
»Bambura«, antwortete Trix. »Kapitän Bambura, der Schrecken der
Kristallenen Inseln.«
Die Idee, die sich da in Trix’ Kopf eingenistet hatte, war eigentlich gar nicht für ihn oder Bamburas Truppe bestimmt. Nein, sie wartete in jener idealen Welt, in der alles bereitliegt, was sich fantasievolle Köpfe je ausgedacht haben, auf ein paar andere Schauspieler. Im Übrigen amüsiert Schauspieler nichts so sehr wie der Versuch, ihre Bühnenrollen im echten Leben zu spielen. (Was passiert, wenn die Rebellen tatsächlich rebellieren, die Kämpfer kämpfen, die Erfinder erfinden?) Doch sei es wegen des Biers, sei es wegen der Angst um Tiana – jedenfalls schaffte Trix es, diese Idee am Schlafittchen zu packen und Paclus davon zu überzeugen.
Warum aber billigte Paclus die Idee? Lag es an dem vielen Bier, das er in der Schuppe und Kralle getrunken hatte? Oder daran, dass er – wie alle Ritter und Zwerge – nicht das Geringste von der Seefahrt verstand?
Als Trix und Paclus zum Theater kamen, strömte die Menge gerade auseinander. Kinder lärmten in allen Tonlagen, Kinderfrauen und Gouvernanten versuchten, ihre Schutzbefohlenen in die richtige Richtung zu lenken. Überall standen leere Fruchteis-Gläser und kleine Körbe mit karamellisierten Walnüssen oder türkischem Honig herum. »Mehr!«, schrie ein kleiner Junge aus vollem Hals. »Ich will noch mehr von Bambura und Albi!«
Das Gewusel gefiel Trix gar nicht. Offenbar war das Stück in Dillon sehr populär. Doch bei aller Liebe zur Schauspielkunst – ein leerer Saal und hungrige Schauspieler, die bereit waren, für ein paar Goldstücke als Matrosen anzuheuern, wären Trix jetzt viel lieber gewesen.
Am Ausgang stand der Barbar aus dem Norden, der Trix gleich wiedererkannte und ihm zunickte. Wer einmal einen Fuß in die Welt des Theaters gesetzt hatte, gehörte offenbar für immer dazu.
Den Ritter Paclus beäugte der Barbar dagegen voller Misstrauen, obendrein legte er prompt die Hand an den Streithammer.
Der Ritter reckte im Gegenzug stolz den Kopf, sodass sein Bart nach oben aufragte, und fasste seinerseits nach dem Schwert.
Einen ausgedehnten Moment lang sahen die beiden
einander schweigend an.
Dann zog der Barbar den Hammer aus dem Gehänge und streckte Paclus
den Griff entgegen. Trix dachte schon, der Barbar böte dem Ritter
die Waffe an, damit dieser sie begutachte. Doch weit gefehlt! Mit
seinem langen dreckigen Fingernagel markierte der Barbar den Griff
des Hammers, als wolle er ein handtellergroßes Stück
abmessen.
Paclus schnaubte, holte sein Schwert heraus und zeigte die
Einkerbung an seinem Griff.
Der Barbar hielt den Hammer gegen das Schwert und verglich die
beiden Abschnitte. Der des Ritters war länger.
»Hm«, brummte der Barbar. Dann hielt er dem Ritter erneut den Griff
des Streithammers hin. Daraufhin hielt der Ritter dem Barbaren den
Schwertknauf hin. Sie legten die Waffen aneinander und verglichen
sie aufmerksam.
Der Schwertgriff war dicker.
Nun wurde der Barbar nervös. Er legte sich den Hammer in die Hand
und stieß ihn drei Mal hoch in die Luft. Und nach kurzem Zögern
sogar ein viertes Mal.
Paclus lachte. Munter salutierte er in besagter Weise mit seinem
Schwert sechs Mal hintereinander.
»Das kann nicht sein!«, schrie der Barbar.
»Das ist, wenn ich nicht in Form bin«, gab sich Paclus
bescheiden.
»Unmöglich!«
»Zwergenblut!«, gestand der Ritter mit gedämpfter Stimme.
In den Blick des Barbaren schlich sich Respekt. »Tritt ein,
ruhmreicher Mann«, sagte er und verneigte sich.
Trix und Paclus betraten das Theater. »Was war das?«, fragte Trix,
der vor Neugier platzte. »Ein Barbarenbrauch?«
»Ja«, antwortete Paclus. »Die Barbaren sind ein sehr hitziges und
stolzes Volk. Wenn sie jedes Mal einen Streit mit der Waffe
austragen würden, wäre schon bald keiner mehr von ihnen übrig.
Deshalb existiert seit Langem der Brauch, die Waffen zu
vergleichen. Ich habe die Überlegenheit meiner Waffe bewiesen – und
damit meine über ihn.«
»Ihr seid also stärker als dieser Schrank!«, rief Trix
begeistert.
»Die Barbaren sind ein sehr hitziges, stolzes und argloses Volk«,
antwortete Paclus nebulös. »Also … wo steckt dein Kapitän
Bambura?«
Sie durchquerten den Zuschauersaal, wo zwei wackere alte Frauen den
dreckigen Boden mit dreckigen Scheuerlappen, die sie in
regelmäßigen Abständen in Eimer mit dreckigem Wasser tauchten,
bearbeiteten. Solche alten Frauen leben in allen Welten zu allen
Zeiten. Einige Magier vermuten sogar, es handle sich bei ihnen
nicht um Menschen, sondern um Sauberkeitsfeen, eine besondere
Spezies von Wesen, die schon alt und mit Lappen und Eimer in der
Hand auf die Welt kommen. Ihr besonderes Merkmal sind geheime Sätze
und Bräuche, an denen sie einander erkennen.
»Kommt ja jenner und henner …«, sagte die eine Alte, als Trix an
ihr vorbeiging, und fuhr ihm mit dem Lappen über die
Stiefel.
»Kommt und prompt …«, erwiderte die andere. »Hat er nichts Besseres
zu tun, oder was? Kommt und prompt saut er alles ein.«
Leider wusste Trix nicht, dass die Antwort auf diesen
geheimnisvollen Gruß darin bestand, zweimal auf dem linken Bein zu
hüpfen und zu rufen: »Wo kömmt man denn da hin? Jenner latscht
überall rein, henner immer geradenwegs durchs Nasse!« Hätte er das
gewusst, dann … ja, dann hätten sich die beiden Alten sofort in
wunderschöne Feen verwandelt, ihn in die Arme geschlossen und ihm
jeden Wunsch erfüllt. Zum Beispiel den, zum Schiff der Vitamanten
zu fliegen, mit Schrubbern alle lebenden Toten zu erschlagen und
Tiana nach Dillon zu bringen. Dann … ja, dann wäre unsere
Geschichte ganz anders ausgegangen!
All das wusste Trix jedoch nicht, sodass er sich schuldbewusst an
den beiden brabbelnden Alten vorbeizwängte. Ihm folgte mit stolz
vorgerecktem Bart der Ritter, den auszuschimpfen die Feen sich
nicht trauten, hatten sie die althergebrachte Feindschaft zu den
Zwergen doch nicht vergessen.
Sie fanden den kühnen Kapitän Bambura in seiner Garderobe. Er und
Krakritur aßen Hühnchen. Ihnen leistete ein kleiner dicker Mann in
fortgeschrittenem Alter Gesellschaft.
»Trix«, sagte Bambura erstaunt und leckte sich die Finger ab. »Du
bist ja unter die Zauberer gegangen!«
»Willst du Huhn?«, fragte Krakritur unerschüttert. »Und wen bringst
du da mit?«
Unter dem Tisch bellte Albi, empört darüber, dass sich die Zahl der
Esser so erhöht hatte.
»Das ist mein Freund, der kühne Ritter Paclus«, sagte Trix, um dann
noch hinzuzufügen: »Und damit ihr es gleich wisst, er ist kein
Zwerg!«
Stille trat ein. Paclus funkelte Trix an und legte die Hand aufs
Schwert.
»Setzt Euch, werter Ritter«, entschärfte Bambura die Situation.
»Wir haben schon von Euch gehört.«
»Und von Eurer Familie«, ergänzte Krakritur.
»Moment mal!«, rief der Dicke. »Sind das nicht Eure Großeltern
gewesen, über die wir die Operette Wenn die
Großmama der Großpapa wäre oder Die Zwergenlagune geschrieben
haben?«
Grabesstille trat ein. Trix wollte die Schauspieler schon zur
Flucht antreiben. Da er aber Paclus’ Kampfgeist kannte, wusste er,
dass das nichts ändern, sondern nur zu einer umso heftigeren
Prügelei führen würde.
Da nahm Paclus plötzlich die Hand vom Schwert. »Das hat Eure Truppe
gemacht?«, fragte er. »Meine Großmutter findet es herrlich. Sie
sagt, sie habe geweint bei der Vorstellung. Bei der Szene, als mein
Großvater ihr hilft, einen Schmiedeofen aus Muscheln zu bauen
…«
»Ja, das waren wir!« Der Dicke fasste Paclus’ Hand und schüttelte
sie heftig. »Ich erinnere mich noch an sie, die liebe Alte! Als
einmal ein Herr unsere Vorstellung kritisierte, hat sie ihn zum
Fenster rausgeschmissen. Wie geht es ihr?«
»Wie schon?« Paclus zuckte mit den Achseln. »Sie schmiedet immer
noch … Ich weiß noch, ihr hat vor allem die Schauspielerin
gefallen, die sie gespielt hat …«
»Das war ich«, sagte der Dicke stolz. »Darf ich mich vorstellen?
Maichel, Theaterdirektor und im Nebenberuf Schauspieler.«
»Sowie Kartenverkäufer, Koch und die schreckliche Geräuschkulisse
…«, flüsterte Krakritur.
»Aber wie konntet Ihr meine Großmama spielen?«, empörte sich
Paclus.
»Damals war ich jünger und hübscher«, sagte Maichel rasch. »Und ich
hatte einen wunderbaren Bart.«
»Der war auch wirklich nicht angeklebt?«, fragte der Ritter
misstrauisch.
»Bestimmt nicht! Das wäre eine Beleidigung gewesen, die mir Eure
Großmama nie verziehen hätte!«
Da brach Paclus in Gelächter aus und donnerte dem Direktor die Hand
auf die Schulter. »Was für ein … Schauspieler! Außerdem kennt Ihr
uns … die Zwergenbräuche!«
»Ein Schauspieler muss sich in die Figur einfühlen, die er
darstellt«, erklärte Maichel, während er seine Schulter rieb.
»Sonst misslingt die Darbietung … und am Ende würde noch jemand den
Schauspieler deswegen ermorden.«
»Oh!« Paclus setzte sich auf einen freien Hocker, nachdem er sich
zuvor von dessen Stabilität überzeugt hatte. Der Hocker knirschte,
hielt ihn jedoch aus. »Das trifft sich gut. Die Sache ist die, mein
lieber Maichel, dass ich Euch bitten möchte, uns fünf oder sechs
Personen auszuleihen, die in dem Stück Albi und
Bambura auf den Kristallenen Inseln mitwirken. Natürlich würdet
Ihr dafür ausreichend belohnt werden.«
Daraufhin lachten alle schallend los.
»Stimmt was nicht?«, fragte Paclus.
»Das, hochverehrter Ritter«, antwortete Maichel, »ist rein
rechnerisch leider unmöglich.«
»Rein rechnerisch?«
»Ja. Bei dem Stück spielen nämlich insgesamt nur vier Personen mit.
Bambura, Krakritur, unser wackerer Freund Hort aus dem Norden und
ich.«
Der kleine weiße Hund unter dem Tisch knurrte wütend.
»Tut mir leid, Albi.« Maichel vollführte eine Verbeugung. »Vier
Personen und ein Hund.«
»Aber in dem Stück gibt es eine Schiffsmannschaft, Wilde,
Vitamanten …«, sagte Paclus ungläubig – und lief hellrot
an.
Maichel war so klug, darüber hinwegzugehen, dass der Ritter ein
Spiel für Kinder ausgesprochen gut kannte.
»Sicher! Aber wir können uns keine große Truppe leisten. Wisst Ihr,
wie teuer es ist, ein Theater in einer großen Stadt zu mieten?
Deshalb sind wir nur zu viert und jeder spielt mehrere Rollen. Dann
gibt es noch Statisten, da stellen wir für einen oder zwei Abende
Städter ein.«
»Gestatten: Kapitän Bambura, Häuptling der Wilden, das Monster im
Bärenpelz mit Hirschgeweih, die Frau des Kapitän Bambura und der
junge Vitamant!«, ratterte Bambura stolz herunter.
»Zweiter Offizier von Bambura, Sohn des Häuptlings der Wilden,
Gebieter der Vitamanten, Hafenwache und Matrose oben auf dem
Mast!«, erklärte Krakritur.
»Erster Offizier, zweiter Matrose, Mann über Bord, lebende Leiche,
der Jäger bei den Wilden und die Alte im Zelt«, sagte Maichel und
verbeugte sich.
»Und unser guter Hort spielt alle anderen Matrosen, Wilden und
Vitamanten, dann noch den Minotaurus, der den Kriegstanz aufführt,
und den Sonnengott«, erklärte Bambura lächelnd.
»Theater – das ist Betrug«, sagte Paclus traurig.
»Nein, das dürft Ihr nicht sagen!« Maichel fuchtelte mit den
Händen. »Theater – das ist ein Traum! Illusion! Das ist, wenn alle
Beteiligten, Schauspieler und Zuschauer, auf den Zauber vertrauen!
Was stört Euch daran, edler Ritter? Wir führen Euch auch zu viert
jedes Stück auf!«
»Könnt Ihr auch ein Schiff steuern?«, fragte Paclus. »Im echten
Leben? Oder ist das … die Illusion des Vertrauens und der
gemeinsame Traum aller Beteiligten?«
»Also, ich habe mir von Seeleuten, die ich kenne, Rat geholt.«
Maichel dachte nach. »Jetzt kann ich Seemannsknoten
knüpfen.«
»Und ich bin als kleiner Junge auf dem Schiff von meinem Pap…«,
Bambura hüstelte, »auf einem Schiff gefahren. Ich durfte sogar mal
das Ruder übernehmen.«
»Und ich habe ein Jahr lang als Schiffsjunge auf einer
Handelsgaleere gedient«, sagte Krakritur. »Eigentlich hätte ich
dreieinhalb Jahre mit ihnen mitfahren sollen, aber nach dem Sieg
bei der Schwarzen Anfurt wurden alle unter siebzehn vorzeitig
entlassen.«
»Wir brauchen eine Mannschaft für einen kleinen Schoner.« Paclus
knallte verärgert die Faust auf den Tisch. Geschickt fing er dabei
ein Stück Huhn auf, das durch den Schlag in die Luft katapultiert
worden war, riss einen Flügel ab und biss hinein. »Selbst wenn Ihr
Knoten knüpfen könnt, seid Ihr noch keine Seeleute! Wir haben nur
unsere Zeit verschwendet, als wir Euch aufgesucht haben!«
»Moment mal!«, empörte sich Maichel. »Ja, wir sind Schauspieler!
Aber ein echter Schauspieler vollbringt auch im Leben das, was er
auf der Bühne zeigt.«
Krakritur schnaubte.
»Ohne einen Kapitän können wir nicht in See stechen.« Paclus
schüttelte den Kopf. »Ich meine einen, der weiß, was das Hauptsegel
und was der Bugspriet ist!«
»Bei einem Einmaster ist das Hauptsegel das schräge untere Segel«,
erklang es da hinter Trix. »Bei einem Zweimaster sitzt es am
höheren Mast. Und der Bugspriet ist der Spriet, an dem der Klüver
und die Fockstage befestigt werden.«
Alle drehten sich zur Tür um. Der Barbar Hort zog den Kopf ein, um
nicht gegen den Türrahmen zu stoßen, und kam herein. »Hort ist
Kapitän«, sagte er. »Hort ist neun Jahre auf Wikingerschiffen
gefahren, Hort war drei Jahre Kapitän auf einer Samarschaner
Kriegsgaleere, Hort hat ein Jahr als Erster Offizier bei der
königlichen Flotte gedient, dann aber den Kapitän verprügelt,
weshalb er über Bord geschmissen wurde. Hort schwamm zwei Tage und
erreichte das Ufer. Seitdem fährt Hort nicht mehr zur See. Aber
Hort ist Kapitän.«
»Warum hast du das nie erzählt?«, fragte Maichel.
»Es ist eines Mannes unwürdig, sich zu brüsten«, antwortete
er.
»Dann ist es entschieden!« Paclus erhob sich. »Packt Eure Sachen,
alle vier!«
Albi kläffte empört.
»Das gilt auch für dich!« Paclus sah den Hund streng an. »Packt
Eure Sachen und ab an Bord!«
»Halt!«, rief Maichel. »Wir haben noch nicht
eingewilligt!«
»Nicht?«, fragte der Ritter verwundert.
»Ich gehe mit dem kühnen Ritter«, teilte Hort mit. »Die Sagas
werden berichten, wie wir Seite an Seite kämpften!«
»Wohin fahren wir und was müssen wir machen?«, wollte Bambura
wissen.
»Wir werden ein Schiff der Vitamanten verfolgen«, sagte
Paclus.
Krakritur sprang auf. Seine Kiefern mahlten. »Die Vitamanten haben
mein Heimatdorf niedergebrannt! Sie haben meine ganze Familie
ermordet! Ich komme mit!«
»Wir müssen die Fürstin Tiana retten, die von den Vitamanten
entführt wurde«, fuhr Paclus fort.
»Meine Großcousine Tiana?«, rief Bambura. »Ein kleines Mädchen ist
in Gefahr? Ich komme mit!«
»Ich kann Euch«, Paclus schaute in seinen Beutel und bewegte die
Lippen, »sieben … nein, sogar acht Goldstücke geben.«
»Zehn! Und es gilt!«, verlangte Maichel. »Und die Hälfte aller
Schätze!«
Es dämmerte bereits, als sich die vier Schauspieler, Trix, Paclus und der einbeinige Schankwirt am Pier neben einem kleinen Zweimaster trafen. Etwas abseits stand ein Karren mit Vorräten für eine Woche: Essen, Wasser und Lampenöl.
»Da ist sie, die schöne Tintenfisch!«, rief der Schankwirt und zeigte auf
den Schoner.
»Nicht gerade groß«, murmelte Paclus.
»Dafür schnell!«
»Und wenig Segel …«
»Dafür sicher bei jedem Sturm!«
»Und alles vom Holzwurm zerfressen!«, sagte Hort.
Der Wirt beäugte den Barbaren misstrauisch. »Man sieht doch auf
einen Blick, dass das ein tüchtiges Schiff ist!«, blaffte
er.
Unter Missachtung der Gangway sprang der Barbar an Deck und
inspizierte die nächsten Minuten das Schiff, tastete das
Steuerruder ab, stieg hinunter in den Laderaum – von wo er mit
nassen Füßen wieder hochkam – und schaute in die Kajüte.
Schließlich drehte er sich zum Pier um und rief: »Das war mal ein
schöner Stagsegelschoner!«
»Meine Rede!«, erwiderte der Schankwirt.
»Aber jetzt ist es nur noch ein Bretterhaufen. Das Ding hält sich
vielleicht noch ein, zwei Wochen auf Wasser. Falls kein Sturm
aufzieht, denn dann geht es sofort unter. Die Takelage ist
durchgefault, die Segel sind gestopft.«
»Dann kommt es nicht infrage?«, brachte Trix entsetzt
heraus.
»Doch«, entgegnete der Barbar. »Aber es wird es nicht lange machen.
Eine Woche, wie gesagt. Was verlangst du dafür?«
Der Wirt schaute den Schoner an. »Hundert Goldstücke.«
»Du kriegst zwanzig«, sagte der Barbar. »Wenn du diesen Brettersarg
beseitigen lassen wolltest, müsstest du noch draufzahlen, der Pott
taugt ja nicht mal als Brennholz.«
Der Schankwirt reckte die Hände zum Himmel. »Kühner Ritter, das ist
nicht Euer Ernst! Dies ist ein ruhmreiches Schiff!
Fünfzig!«
»Zwanzig«, wiederholte Hort.
»Barbaren feilschen nicht«, mischte sich Maichel ein. »Wenn man
anfängt, mit ihnen zu feilschen, holen sie bloß ihren Hammer heraus
und …«
»Aus Respekt gegenüber dieser tapferen Gemeinschaft erkläre ich
mich einverstanden!«, verkündete der Wirt schnell. »Meine
Großzügigkeit wird mich noch in den Ruin treiben! Und Ihr geht
wirklich nicht auf Schatzsuche?«
Da eine Antwort ausblieb, entfernte sich der Schankwirt vom Pier.
Den kamen gerade zwei kleine Gestalten hinunter, die Trix genauer
hinsehen ließen. Nicht ohne Grund.
»Trix!« Ian winkte und fiel in Trab. Ihm folgte eine noch kleinere
Figur.
»Wer ist das?«, fragte Paclus.
»Mein … mein Knappe«, antwortete Trix verlegen.
»Haben Zauberlehrlinge jetzt schon Knappen?«, wunderte sich der
Ritter.
Ian hatte sie bereits erreicht und blickte die Versammelten
ängstlich an.
»Was machst du hier?«, fragte Trix. »Warum bist du nicht bei
Sauerampfer? Hat er dir gesagt, wo ich bin?«
»Nein.« Ian schüttelte den Kopf. »Er hat nur gesagt, dass du Urlaub
genommen hast. Und dass ich in seinem Haus auf dich warten oder
dich suchen kann, wenn ich will. Und Hallenberry hat gesagt, dass
er dich suchen will. Dann haben wir noch Annette gefragt
…«
»Nicht auch das noch!«, flüsterte Trix.
Annette saß auf Hallenberrys Schulter, baumelte mit den Beinen und
sah Trix beleidigt an. Als sie seinen Blick auffing, machte sie
einen Schmollmund und wandte sich ab.
»Nachdem sie ein bisschen gezaubert hat, wusste sie, dass du am
Pier bist!«, berichtete Ian. »Und Hallenberry bin ich einfach nicht
losgeworden. Er hat gesagt, er würde mitkommen, seine Schwester
retten.«
»Wollt ihr etwa mit uns in See stechen?«, fragte Trix
entsetzt.
»Klaro!«, meldete sich Hallenberry zu Wort.
Tief in seinem Herzen freute sich Trix jedoch. Auf einer
gefährlichen Reise ist letztlich jede Hilfe willkommen. Selbst die
von einem feigen Knappen niederer Herkunft und einem kleinen
Bastard … Aber was würden die anderen dazu sagen? Wie sah das denn
aus, wenn ein Zauberlehrling Kinder in Gefahr brachte?
»Paclus?«, wandte er sich an den Ritter.
»Das musst du entscheiden«, sagte der Ritter. »Es sind deine Leute.
Aber ein paar Hände mehr können nie schaden.«
»Was soll Hallenberry uns schon für eine Hilfe sein?«
»Wenn er Tianas Bruder ist«, erwiderte der Ritter, »und sei es ihr
Stiefbruder, bekommt unsere Reise durch ihn eine gewisse
Legitimation.«
»Richtig!«, bestätigte Maichel. »Weil wir dann eine Art
Familienpflicht erfüllen!«
»Wenn ein Mann bereit ist, für die Ehre seiner Schwester
einzutreten«, stellte Hort kategorisch fest, »spielt es keine
Rolle, wie alt er ist, dann ist er bereits ein Mann. Komm her,
Kleiner!«
Hallenberry trat ängstlich an Hort heran.
»Nimm den!« Der Barbar hatte in seinen Taschen gekramt und einen
winzigen Hammer herausgezogen. »Bei uns bekommen alle Kinder einen
solchen Streithammer, wenn sie zum ersten Mal in den Krieg
ziehen.«
»Wahnsinn!«, brachte Hallenberry begeistert heraus. »Aus
Meteoritenstahl! Und der Griff aus Zypresse! Die Dinger kosten zehn
Goldstücke! Gebraucht!«
Maichel sah Hallenberry respektvoll an.
»Im Notfall musst du unter den Beinen der Feinde durchschlüpfen und
ihnen damit aufs Knie hauen«, erklärte Hort. »Oder den gefallenen
Feinden oben auf den Schädel hämmern, damit sie nie wieder
aufstehen.«
»Das ist nicht nötig!«, mischte sich Trix erschrocken ein. »Wir
schaffen das ohne Kampf!«
»Man muss auf alles vorbereitet sein«, hielt Hort dagegen.
»Außerdem kannst du mit dem Hammer Nüsse knacken.«
»Wenn Ihr meint«, gab Trix klein bei. »Trotzdem bin ich mir sicher,
dass ein Kampf nicht nötig sein wird.«
»Mein Volk hat ein Lied«, sagte Krakritur. »Ich kann es nicht in
eurer Sprache singen, aber der Sinn ist folgender, hört zu! Wenn du
dich auf eine Reise machst, ist es mit einem Freund lustiger. Dann
bist du nicht allein. Die brüllenden Schneestürme verlieren ihren
Schrecken, die glühende Hitze jagt dir keine Angst ein, der
Regenguss stört dich nicht. Mit Freunden handelst und denkst du
besser. Allein auf einen Bären loszugehen ist lebensgefährlich,
aber zusammen mit Freunden kannst du dich von verschiedenen Seiten
anschleichen, und ihr könnt den Bären besiegen, falls ihm nicht ein
anderer Bär zu Hilfe kommt. Damit sich die Weisheit dieses Liedes
fest in deinem Kopf einnistet, musst du es lange singen und jedes
Wort mehrmals wiederholen.«
»Unser Volk hat auch solche Lieder«, sagte Hort. »Selbst die Sänger
im heißen Samarschan kennen ähnliche.«
»Und was ist mit dir?«, wandte sich Trix an Annette.
»Mit mir?« Die Stimme der Fee klang, als würde sie gleich in Tränen
ausbrechen. »Ich mache, was du sagst, mein Liebster. Wenn du
willst, dass ich hierbleibe, werde ich an diesem Pier auf dich
warten … solange meine Kräfte reichen, solange der garstige Wind
mir nicht die Flügel bricht und mich ins eisige Wasser
reißt.«
Trix streckte schweigend den Arm aus und Annette setzte sich auf
seinen Handteller.
Natürlich hatte Trix all die Erzählungen über die heldenhaften
Kinder gelesen, die während des Kriegs gegen die Vitamanten den
Erwachsenen geholfen hatten. Sie hatten die Stärke und die
Marschrichtung der feindlichen Truppen ausspioniert; sie hatten das
Korn in Brand gesteckt, damit der Feind keine Nahrung mehr hatte;
sie hatten Brunnen und Tränken vergiftet; sie hatten die Vitamanten
mit Aufforderungen zugeschrien, sich zu ergeben, und von den
lebenden Leichen verlangt, zu bereuen und sich freiwillig in ihren
Gräbern einzubuddeln.
Nur eine Sache störte Trix. Alle Erzählungen über diese
heldenhaften Kinder endeten damit, dass die Vitamanten sie gefangen
nahmen, schlimmster Folter unterzogen und töteten.
Aber er wollte unbedingt glauben, dass eine Geschichte auch anders
enden kann.
Eine sanfte Abendbrise trug die Tintenfisch aufs Meer hinaus. Die geschmeidigen Rücken der Delfine schimmerten im Dämmerlicht, fliegende Fische jagten übers Wasser, die Luft roch nach Salz, das durchscheinende Flusswasser wurde dunkler, nahm ein tiefes Blau an. Die Möwen zogen träge über den Schoner dahin und schrien sich mit ihren seltsamen Stimmen traurig etwas zu: »Tekelili! Tekelili!«
»Hisst das Hauptsegel!«, befahl Hort.Zu Trix’ Verblüffung brauchten sich die
Schauspieler nur kurz zu beraten, um dann eines der Seile zu
ziehen.
»Hisst die Stagsegel! Zuuu-gleich!«
Nun half auch Paclus den Schauspielern.
»Trimmt die Licken, Fischkinder! Am Baum!«
Hallenberry begeisterte das Geschehen derart, dass er sogar den
Finger in den Mund steckte. Sobald Hort das sah, schrie er:
»Schiffsjunge! Finger aus dem Mund! Ab in die Kombüse! Du hilfst
Ian beim Kartoffelschälen!«
Trix unterdrückte tapfer den Wunsch, Hallenberry zu folgen – und
sich vor dem barschen Kapitän in Sicherheit zu bringen. Schließlich
war er kein Rotzbengel, sondern ein junger Magier …
»Schläfst du, Zauberer?«, wandte sich Hort an ihn. »Wo bleibt dein
Wind? Ich halte den Kurs, bläh du die Segel!«
Trix sah ängstlich zu den alten grauen Segeln über ihm hoch. Die
schlecht gespannten Taue und Schnüre hingen durch, die Flicken auf
dem Hauptsegel knatterten im Wind …
»Eipott«, murmelte er, um das Buch mit Zaubersprüchen zu
öffnen.
Da … das war die Feuerwand … mit dem hier rief er Sauerampfer um
Hilfe … ein wunderbarer Zauber, wenn auch die Worte etwas
beschämend waren: »Oh großer Zauberer, hörst du deinen saumseligen
Schüler …«
Aber da. Da war der Windzauber.
Trix hustete, um die Aufmerksamkeit der Mannschaft auf sich zu
ziehen. Schließlich hing für einen Magier alles davon ab, dass man
ihm zuhörte und glaubte. »Die erste schüchterne Windbö streicht
über den Boden, drückt das Gras nach unten und reißt die Blätter
von den Bäumen. Die Sonne scheint hell und in ihrem Licht …« Trix
verstummte. Hatte Sauerampfer etwa vergessen, dass Tageszeiten die
Angewohnheit haben, sich zu verändern? Oder dass sich ein Schiff
auf dem Wasser bewegt, nicht auf dem Land?
Dieser Zauber passte bestens zu dem Berg, auf dem Sauerampfer
gesessen hatte, als er ihn gewirkt hatte. Aber überhaupt nicht zum
Meer!
»Ich schieb dir hundert Anker in den Ausschnitt!«, herrschte Hort
ihn an. »Kannst du jetzt den Wind herbeizaubern oder nicht? Kannst
du überhaupt zaubern?«
Sofort tauchte Annette aus Trix’ Tasche auf und sah ihn besorgt
an.
Trix hustete noch einmal. Nachdem er den Text überflogen hatte,
ließ er die Hand mit dem Buch sinken. »Wer fliegt dort geschwind
nur knapp überm Meer? Es ist der Sturmvogel, der alte Späher. Er
sieht die Möwen, wohl überm Wasser, die Angst vorm Sturm macht sie
immer blasser«, begann er mit voller Stimme. Irgendwie kam es ihm
vor, als verfehle er die Sache um Haaresbreite, als müsste er nur
etwas andere Worte wählen – und schon würde der Ozean erbeben, die
Berge mit salzigen Wellen überspülen …
»Trix!«, rief Paclus, der sich voller Panik umsah. Am Himmel war
aus dem Nichts ein Sturmvogel aufgetaucht, der wie verrückt auf und
nieder sauste, da er offenbar nicht die geringste Ahnung hatte, was
er da eigentlich tat. Die Möwen schrien und kackten die ganze Zeit.
Von allen Seiten krochen schwere, bleigraue Wolken heran. »Trix,
keinen Sturm! Sondern Wind! Nur Wind von achtern!«
»Und hörst, Sturmvogel, du nicht, wie Donner an düsterm Ort durch
Wolken bricht?«
Es donnerte fürchterlich. Ein blauer Blitz schlug neben dem Schoner
(steuerbord) ein. Das Wasser zischte, Dampfwolken stiegen
auf.
Trix schüttelte den Kopf, denn er begriff nicht recht, was hier
vorging. »Wind! Wehe, wehe manche Strecke, dass der Schoner übers
Wasser schieße!«, fuhr er fort. »Denn der Wind ist mächtig und
treibt die Wolken rasch über den Himmel. Und als er auf einen
kleinen Zweimaster trifft, hebt der Wind ihn mit seiner zarten,
aber auch starken Hand an und jagt ihn vorwärts. Immer weiter! Dem
Schiff der gemeinen Vitamanten hinterher, die die Fürstin Tiana
entführt haben! Dem Schiff der Vitamanten hinterher – aber mit
zweifacher, mit dreifacher Geschwindigkeit!«
Etwas klatschte gegen das Achterdeck. Die Segel blähten sich
knatternd. Jedes erbärmliche Toppsegel, jedes noch so kleine
Flopsegel wölbte sich im Wind. Der Schoner flog beinahe über das
Wasser. Ihm auf den Fersen folgten ein wilder Sturm, Donner und
Blitze.
»Das reicht, Zauberer!«, rief Hort. »Sonst halten die Segel
nicht!«
Trix blickte sich nach dem wolkenverhangenen und von Blitzen
zerrissenen Himmel hinter ihnen um – und beschloss umgehend, von
nun an nur noch nach vorn zu schauen.
»Du bist wirklich ein geborener Zauberer!«, lobte ihn Paclus. Er
stieß Trix freundschaftlich die Faust in die Seite. »Lass mal
vierzig Jahre vergehen, vielleicht sogar nur dreißig, dann werde
ich ruhig und gelassen in einem echten Kampf an deiner Seite
stehen!«
Trix war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment war. Aber er
sagte lieber nichts, sondern schrie Hort zu: »Womit kann ich sonst
noch dienen, Käpt’n?«
Hort sah sich das Deck an, über das die Gischt hinwegfegte, den
klaren Horizont vor ihnen und den grollenden Sturm hinter ihnen.
»Geh in die Kombüse und hilf den anderen beim Kartoffelschälen!«,
sagte er. »Die frische Luft regt den Appetit an!«
Vielleicht hätte es Trix getröstet, wenn er gehört hätte, was Hort
sagte, als er in der Kombüse verschwunden war. »Er ist zu stark für
so simple Aufgaben wie ein kleines Lüftchen. Zu stark und zu jung.
Besser, er wartet noch ein bisschen mit seiner Zauberei.«
Aber das hörte Trix schon nicht mehr, denn er war bereits in der
schmuddeligen Kombüse, wo Hallenberry beim Schein einer Öllampe
Kartoffeln schälte. Ian half ihm tatkräftig, indem er Geschichten
erzählte: »Ich weiß noch, wie ich in der Küche vom Waisenheim
Dienst hatte. Wir mussten fünf Eimer Kartoffeln schälen, aber es
gab nur ein Messer und das war auch noch stumpf.«
Bei Trix’ Auftauchen sprang Ian hoch und täuschte Geschäftigkeit
vor: Er sammelte die Kartoffelschalen auf, füllte Wasser in einen
Topf, heizte den Herd an – all das gleichzeitig, versteht
sich.
Trix schimpfte ihn jedoch für seine Faulheit nicht aus, sondern
setzte sich still in eine Ecke, holte das Eipott heraus und las
aufmerksam jenen Zauberspruch durch, mit dem der Feind in tiefen
Schlaf versetzt werden sollte. Der schien in Ordnung. In ihm
tauchte sowohl das Meer wie auch ein Schiff auf. Hier hatte
Sauerampfer anscheinend alles richtig gemacht.
Damit blieb nur eine Frage offen: In wen (oder in was) sollte er
Tiana verwandeln?
»Ian, wenn du dich eine Zeit lang in jemanden verwandeln müsstest,
wer wolltest du dann sein?«, fragte er.
»König«, antwortete Ian. »Und den Magier, der mich verwandelt
hätte, würde ich auf der Stelle töten.«
»Und wenn es ein Tier wäre, in welches dann?«
»In einen Drachen!«
»Hallenberry, was würdest du werden wollen?«, fragte
Trix.
»Eine Kröte«, sagte der Junge. »Klaro, eine Kröte!«
»Warum?«, wollte Trix verwundert wissen.
»Die springt so lustig. Außerdem kann sie im Wasser leben und an
Land. Ist doch toll, klaro!«
Trix winkte ab und versank tief in seine Grübeleien.
An dieser Stelle wollen wir ihn ein Weilchen in Ruhe lassen.
Schließlich ist es keine leichte Aufgabe, sich eine Verwandlung
auszudenken, die einem selbst ein sehr verwöhntes Mädchen nicht
übel nimmt.
Der Schoner schoss unterdessen auf den Flügeln des Sturms dahin,
dem Schiff der Vitamanten hinterher.